Flucht

 

Arutha gab das Zeichen zum Halten.

Alle, auch die Kinder, drückten sich an die Felswände, um einer möglichen Entdeckung von oben zu entgehen. Die gesamte Gesellschaft duckte sich in die tiefe Furche, der sie die ganze Nacht lang gefolgt waren. Der Tag begann langsam zu dämmern, und nach der furchtbaren Zerstörung von Armengar war das Land hinter der Stadt zum Niemandsland geworden.

Der Fall der Stadt war für Murmandamus ein Sieg gewesen, der ihn jedoch wesentlich mehr gekostet hatte als erwartet. Die Berge hinter Armengar waren in ein vollkommenes Chaos geworfen worden. Die umherziehenden Einheiten waren von den wild aus der Stadt fliehenden Truppen überrannt worden. Eine große Anzahl Trolle und Goblins hatte die Berge verlassen und war in das Lager von Murmandamus zurückgekehrt.

In den ersten Stunden nach der Vernichtung der Stadt hatte Aruthas Gesellschaft nur wenige Goblins oder Dunkle Brüder gesehen, offensichtlich hatte Murmandamus keine große Zahl von Einheiten in die Berge abkommandiert. Zuerst hatten Murmandamus' Truppen zwischen den Felsen keinen klaren Vorteil gehabt. Die Kommandanten hatten sich untereinander nicht abgesprochen, und es waren auch noch nicht genügend Soldaten in die Berge eingedrungen, um die Unterlegenheit der Armengaren deutlich zu machen. Banden von Goblins und Moredhel wagten sich in die kleinen Canons und Schluchten hinter der Stadt und versuchten, die Flüchtlinge in der Dunkelheit zu überfallen, doch viele kehrten von diesen Raubzügen nicht wieder zurück. Langsam wurde das Gleichgewicht allerdings wackelig; bald würde sich das gesamte Gebiet in der Gewalt des Feindes befinden.

Arutha betrachtete die zusammengekauerten Kinder. Etliche von den kleineren waren wegen der schlaflosen Nacht und der ständigen Angst am Rande des Zusammenbruchs. Das Problem, einen sicheren Durchschlupf nach Süden zu finden, wurde durch die Langsamkeit der jüngsten Kinder noch erschwert. Und hinter jeder Wegbiegung konnten sie in ein Gefecht mit dem Feind verwickelt werden. Zweimal waren sie auf weitere Flüchtlinge aus der Stadt gestoßen, doch Guy hatte sie vorbeiziehen lassen, damit die Gruppe nicht noch größer wurde. Und ebenfalls zweimal hatten sie Leichen entdeckt - Soldaten von beiden Seiten.

Die Stiefeltritte wurden lauter, und da es offensichtlich eine größere Anzahl war, die kaum den Versuch unternahm, sich versteckt zu halten, schloß Arutha auf Feinde. Er gab ein Zeichen, und alle zogen sich weiter in den tiefen Graben zurück, bis Guy, Amos, Briana und Shigga vor den kauernden Kindern geduckt im Schatten standen. Jimmy und Locklear blieben zwischen den Kleinen und hielten sie ruhig.

Die Patrouille, die von einem Moredhel angeführt wurde, bestand aus Trollen und Goblins. Die Trolle schnüffelten herum, doch der schwere Geruch des Rauches machte es ihren Nasen nicht leicht. Sie marschierten an dem Graben vorbei und verschwanden in einem anderen Hohlweg. Als sie vorbei waren, gab Arutha ein Zeichen, und die Truppe bewegte sich vorsichtig weiter voran, entgegen der Richtung, in die sich die Patrouille aufgemacht hatte.

Plötzlich schrieen die Kinder vor Angst auf, und Arutha und die anderen wirbelten herum. Jimmy sprang an den Kindern vorbei, Locklear war an seiner Seite, und beide hatten die Waffen gezogen, als die Trolle angriffen. Ob sie die Flüchtlinge nun entdeckt hatten oder sich einfach dazu entschlossen hatten, den Rückweg durch den Graben anzutreten, konnte Arutha nicht sagen, doch er wußte, sie mußten sich dieser Patrouille schnellstens entledigen, anderenfalls würde sie noch weitere alarmieren.

Arutha stieß über Locklears Schulter hinweg zu und tötete einen Troll, der den Jungen von hinten angreifen wollte. Amos und Guy kamen herbei, und schon war die ganze Truppe in den Kampf verstrickt. Shigga warf seinen Speer und tötete einen weiteren Troll, während sich der Moredhel Guy entgegenstellte. Der Dunkelelb erkannte den Protektor von Armengar, denn er schrie: »Einauge!« Er attackierte du Bas-Tyra mit wilder Wut und drängte Guy zurück, doch Locklear wiederholte Aruthas Trick, stieß an Guy vorbei zu und tötete den Moredhel.

Dann war es vorbei; fünf Trolle, eine gleiche Anzahl Goblins und der Moredhel waren tot. Arutha keuchte und sagte: »Dieser schmale Graben hat doch seine Vorteile. Wenn sie uns hätten umzingeln können, hätten wir niemals überlebt.«

Guy sah in den Himmel, an dem der Morgen graute, und meinte: »Wir müssen einen Ort finden, wo wir uns verstecken können. Die Kinder schlafen fast im Stehen ein, und hier in der Nähe gibt es keine Stelle, an der wir über die Berge kommen können.«

Shigga sagte: »Mein Kraal ist nicht weit von hier, deshalb bin ich hier viel herumgekommen, Protektor. Etwa eine Meile weiter im Westen gibt es einen Weg, der nicht häufig benutzt wird. Er führt zu einer kleinen Höhle. Vielleicht können wir deren Eingang tarnen. Allerdings ist der Weg dorthin mit beschwerlicher Kletterei verbunden ...«

»Wir haben keine andere Wahl«, meinte Amos.

Guy sagte: »Führ uns hin.«

Shigga trabte in schnellem Schritt los und wurde nur langsamer, wenn er um Wegbiegungen spähte. Nachdem er die Felsen am Rande des Hohlwegs hochgeklettert war, begannen sie, die Kinder hinaufzureichen. Das letzte Kind war gerade hochgehoben worden, und Briana war hinterhergeklettert, da hörten sie von Westen her einen Ruf. Ein halbes Dutzend armengarischer Soldaten lieferte sich ein Rückzugsgefecht mit einer größeren Anzahl Goblins, die sie in Richtung von Arutha und seinen Gefährten drängten.

Guy rief Briana zu: »Bring die Kinder weg von hier!« Shigga duckte sich und hielt den Speer wurfbereit, während Briana mit den Kindern in die Höhle eilte.

Arutha und die anderen stießen zu den Armengaren, blockierten den Hohlweg und wichen vor den Goblins nicht zurück. Die Goblins kämpften mit wilder Entschlossenheit, und plötzlich rief Arutha: »Sie fliehen vor etwas hinter ihnen.«

Der Druck der Goblins auf die Armengaren nahm noch zu. Guy befahl einen langsamen Rückzug, und Schritt für Schritt ließen sie sich von den Goblins durch den Hohlweg zurückdrängen. Während Briana die Kleinen voranscheuchte, stand Shigga noch immer geduckt am oberen Rand, um den engen Weg zur Höhle gegen Trolle oder Goblins zu verteidigen, die versuchen könnten, zu den Kindern hochzuklettern. Doch die Goblins ignorierten sie; sie wollten einfach nur an Guys Abteilung vorbeikommen.

Dann ertönte ein Schrei von der anderen Seite, die Arutha nicht sehen konnte, und etliche der hinteren Goblins kämpften auf einmal gegen einen neuen Feind. Die Bewegung der Goblins kam zum Stillstand, als sie zwischen den beiden Gruppen der Angreifer in der Falle saßen.

Ein aufgeregter Ruf brachte Arutha dazu, sich umzudrehen. Jimmy und Locklear hatten ihnen den Rücken gesichert, und am gegenüberliegenden Ende des Hohlwegs tauchte jetzt ein weiterer Trupp Goblins auf. Ohne Zögern schrie Arutha: »Klettert! Raus hier!«

Er und die Jungen sprangen auf die Felsen zu, stachen dabei aber immer wieder nach unten zurück, damit auch Amos und Guy die Gelegenheit bekamen, nach oben zu klettern. Jetzt konnte Arutha sehen, was die Goblins in die Flucht geschlagen hatte. Sie wurden von einer Kompanie wütender Zwerge attackiert. Hinter den Zwergen entdeckte er zwei Elben, die ihre Bögen im Anschlag hatten und über die Köpfe ihrer kleineren Kampfgenossen hinwegschossen. Arutha erkannte einen der beiden Elben und schrie: »Galain!«

Der Elb sah auf und winkte. Er schulterte seinen Bogen, sprang auf den Grat und umging das Kampfgeschehen in dem Hohlweg. Mit einem langen Schritt setzte er über eine weitere tiefe Furche hinweg und landete auf der Seite des Grabens, auf der Arutha stand. »Martin ist weiter unterwegs nach Yabon! Ist mit Euch alles in Ordnung?«

Arutha nickte und holte tief Luft. »Ja, doch die Stadt ist gefallen.«

Der Elb sagte: »Das wissen wir. Die Explosion war noch viele Meilen entfernt zu sehen. Die ganze Nacht über sind wir immer wieder auf Flüchtlinge gestoßen. Die meisten von Dolgans Zwergen haben einen losen Korridor entlang des hohen Weges gebildet.« Er zeigte zur Hauptstraße zurück, die sie benutzt hatten, als sie nach Armengar gekommen waren. »Der größte Teil der Flüchtlinge wird es dort hindurch schaffen.«

Guy sagte: »Da oben in der Höhle sind noch Kinder.« Er machte eine Handbewegung in Shiggas Richtung, der auf der anderen Seite des Hohlwegs kauerte.

Galain rief: »Arian! Dort oben sind Kinder!« Er zeigte zu der Höhle. Die zweite Abteilung der Goblins mischte sich ins Kampfgetümmel, und jede weitere Verständigung war unmöglich. Einige Goblins versuchten, die Felsen hochzuklettern, doch Amos trat einem ins Gesicht, und Jimmy rammte einem zweiten das Schwert in den Leib, woraufhin sich die anderen die Sache noch einmal überlegten.

Eine kurze Kampfpause erlaubte es Arian, dem zweiten Elben, zu schreien: »Wir bringen sie hier raus!« Der Elb schoß weiter Pfeile auf die Goblins. Zwei Zwerge kletterten den schmalen Weg hoch und halfen Shigga, Briana und zwei anderen armengarischen Soldaten, die Kinder sicher nach unten zu bringen.

Galain sagte: »Calin hat eine Truppe von uns zum Steinberg gesandt, damit wir Dolgan unsere Ehrerbietung zollen, wenn er die Krone annimmt. Als Martin ankam und berichtete, was hier oben vor sich geht, ist Dolgan sofort aufgebrochen. Arian und ich entschlossen uns, ihn zu begleiten, während der Rest von uns mit der Nachricht von Murmandamus' Vormarsch nach Elvandar zurückgekehrt ist. Calin kann den Wald nicht unbeschützt lassen, seit Tomas verschwunden ist, doch ich vermute, er entsendet eine Kompanie Bogenschützen, die den Zwergen dabei hilft, die Überlebenden über die Berge zu bringen. Der Korridor der Zwerge durch die Berge wird gehalten, und zwar von der Inclindelschlucht bis etwa eine Meile westlich von hier. Dolgans Krieger schwärmen überall in den Bergen herum, und in der nächsten Zeit wird es hier ziemlich lebendig sein.«

Die Zwerge griffen hinter einer Wand aus Schilden an, während die Männer oben die Kinder auf der Rückseite des Kampfgeschehens an zwei Zwerge hinunterreichten, die sie rasch in Sicherheit brachten. Jimmy zog Guy am Ärmel und deutete auf eine Stelle, an der ein Trupp Trolle versuchte, nach oben zu steigen. Guy sah sich um und bemerkte zwischen sich und den Zwergen noch ein gutes Dutzend Goblins, dann zeigte er nach Osten. Er gab Briana und Shigga mit der Hand ein Zeichen, daß sie mit den Kindern fliehen sollten. Rasch kletterten Guy und die anderen hinter die Goblins und sprangen hinab. Sie rannten bis zur letzten Weggabelung zurück und bogen in eine flache Furche ein. Sie duckten sich in die gleiche Deckung, die ihnen schon vor Minuten Schutz gewährt hatte. Guy sagte: »Diese Trolle, die von dort oben kommen, machen es uns unmöglich, die Zwerge zu erreichen. Vielleicht können wir noch tiefer kommen und weiterlaufen, bis wir sie umgangen haben.«

Galain sagte: »Hier oben ist alles ziemlich durcheinander. Ich war bei den vordersten Reihen von Dolgans Armee, und sie sind so weit vorgedrungen, wie sie konnten. Jetzt beginnen sie mit dem Rückzug. Wenn wir sie nicht bald einholen, bleiben wir hier allein zurück.«

Schreie von oben unterbrachen ihr Gespräch, als mehr von Murmandamus' Soldaten auf die Zwerge zurannten. Guy gab ein Zeichen, und sie machten sich in geduckter Haltung davon und krochen tiefer in den Graben hinein. Als sie einige hundert Meter hinter sich gebracht hatten, fragte Guy: »Wo sind wir?«

Sie wechselten Blicke und bemerkten, daß sie nicht den gleichen Weg wie auf dem Hinweg genommen hatten und jetzt irgendwo im Westen der Höhle waren, durch die sie aus der Stadt gekommen waren. Jimmy sah auf und wollte sich erheben, duckte sich aber gleich wieder. Er zeigte nach vorn. »Da glüht der Himmel immer noch, also muß dort die Stadt sein.«

Guy fluchte leise. »Wir sind nicht so weit östlich wie ich dachte. Ich weiß nicht, wohin dieser Graben führt.«

Arutha sah zum erleuchteten Himmel hoch. »Wir sollten lieber weiterziehen.« Sie eilten davon, nicht sicher, wohin es sie eigentlich verschlug, doch mit der Gewißheit, daß sie, falls sie erwischt wurden, sterben mußten.

 

»Reiter«, flüsterte Galain, der an der Spitze den Weg suchte.

Arutha und Guy zeigten beide in die Richtung, und der Elb sagte: »Abtrünnige. Ein halbes Dutzend. Diese Flegel machen es sich an einem Lagerfeuer gemütlich.«

»Irgendwelche Anzeichen von anderen?« fragte Guy.

»Nichts. Ich hab' weiter im Westen Bewegungen gesehen, doch ich glaube, wir sind hinter Murmandamus' Linien geraten. Wenn die, die da am Feuer herumlungern, stellvertretend für die Lage stehen, müssen die Dinge hier oben ziemlich ruhig sein.«

Guy zog mit dem Daumen eine Linie über seine Kehle. Arutha nickte. Amos zog ein Messer aus dem Gürtel und bedeutete den Jungen, um das Lager herumzuschleichen. Geduckt marschierten die beiden weiter, bis Jimmy ein Zeichen gab, und er und Locklear kletterten auf den Weg. Die beiden Junker bewegten sich rasch und lautlos, während Arutha, Amos, Galain und Guy warteten. Schließlich hörten sie einen erstickten Schrei und stürmten vorwärts.

Die beiden Junker hatten auf der gegenüberliegenden Seite des Lagers eine Wache angesprungen, und die fünf anderen Männer wandten den Dazukommenden den Rücken zu. Drei starben, ohne zu erfahren, daß sich jemand näherte, und die beiden anderen folgten augenblicklich. Guy sah sich um. »Zieht Euch ihre Mäntel über. Wenn wir angerufen werden, entdecken sie die Täuschung wahrscheinlich schnell, doch solange wir von den Wegen fernbleiben, denken ihre Wachposten vielleicht, wir wären nur ein weiterer Trupp, der nach Versprengten sucht.«

Die Jungen zogen die blauen Mäntel über ihre armengarische Lederkluft. Arutha behielt seinen eigenen blauen Mantel an, während sich Amos in einen grünen hüllte; Guy blieb in seinem schwarzen. Bis auf einen Mann trugen alle Armengaren braun, und indem sie diese Farbe ablegten, konnten sich die Flüchtlinge vielleicht für eine Weile tarnen. Arutha warf Galain einen grauen Mantel zu und meinte: »Da, versuche so auszusehen wie ein Dunkler Bruder.«

Der Elb entgegnete trocken: »Arutha, Ihr seid Euch, glaube ich, nicht darüber im klaren, was für eine Probe unserer Freundschaft diese Bemerkung ist. Ich muß Martin bitten, daß er Euch diese Dinge einmal erklärt.«

Arutha sagte: »Bestimmt, aber erst, wenn wir wieder daheim bei unseren Familien sind.«

Die Leichen wurden in einen Graben gerollt. Jimmy sprang auf einen schmalen Grat über dem Lager und kletterte zu einem weiteren Grat hinauf. Von dort oben konnte er einigermaßen gut ausmachen, wo sie sich befanden. »Verdammt!« fluchte er und sprang gleich wieder herunter.

»Eine Patrouille, noch etwa eine halbe Meile entfernt. Sie sind zwar nicht in Eile, doch sie kommen in diese Richtung. Dreißig oder mehr Reiter.«

Guy sagte: »Wir brechen sofort auf«, und sie bestiegen die Pferde der Abtrünnigen.

Während sie davonritten, sagte Arutha: »Galain, ich habe noch gar keine Zeit gehabt, nach den anderen zu fragen, die mit Martin losgezogen sind.« Er ließ die Frage unausgesprochen.

Galain antwortete: »Martin hat den Steinberg als einziger erreicht.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir wissen nur, daß der Jugendfreund von Laurie tot ist«, erklärte er, ohne den Namen von Roald, dem Gefallenen, zu nennen, ganz so wie es bei den Elben Sitte war. »Von Laurie und Baru Schlangentöter wissen wir nichts.« Arutha konnte nur nicken. Er bedauerte den Tod von Roald. Der Söldner hatte sich als treuer Gefährte erwiesen. Doch noch mehr erschütterte ihn Lauries Ungewisses Schicksal. Er dachte an Carline. Um ihretwillen hoffte er, daß es Laurie gutging. Dann schob er diese Sorgen zugunsten ihrer augenblicklichen Probleme beiseite und gab Galain mit einem Wink zu verstehen, er solle die Führung übernehmen.

Sie machten sich nach Osten auf. Galain ritt voran, und sie glichen tatsächlich einer Truppe Abtrünniger, die von einem Moredhel geführt wurden.

An einer Stelle, wo sich zwei Wege trafen, konnten sie wieder die Stadt sehen. Inmitten der Berge lag ein rauchender Trümmerhaufen. Der Krater an der Stelle, wo der Bergfried gestanden hatte, spuckte immer noch schwarzen Rauch. Die Felsen der Klippe schienen in der frühen Morgendämmerung rot zu glühen. »Ist denn überhaupt nichts vom Bergfried übriggeblieben?« fragte sich Guy mit stiller Verwunderung.

Amos sah mit versteinertem Gesicht nach unten. »Er war dort«, erwiderte er und zeigte auf einen Punkt am Fuße der Felswand. Jetzt konnten sie nur noch ein Inferno von brennendem Naphtha in der tiefen Grube sehen, die aus den Steinen gesprengt worden war. Nichts erinnerte mehr an die Zitadelle oder die innere Mauer, den Wassergraben oder das erste Dutzend Häuserblocks der Stadt. Jene Gebäude, die am nächsten an der Zitadelle gestanden hatten, waren nur noch Schutthaufen. Nur die äußere Mauer war noch intakt, abgesehen von der Stelle, an der das Außenwerk explodiert war. Alles war zerstört, schwarz verkohlt oder glühte rot. Kein Gebäude war unversehrt geblieben, und die Berge ringsum wurden von einem blauschwarzen Rauchschleier verhüllt. Selbst außerhalb der Mauer waren die Leichenberge entsetzlich hoch.

Eines war jedoch nur zu deutlich: Murmandamus hatte einen fürchterlichen Schlag hinnehmen müssen, als er die Stadt erobert hatte, dennoch beherrschte sein Heer unverändert die Ebene vor der Stadt. Banner flogen im Wind, und Kompanien zogen voran. Der Kriegsherr der Moredhel hatte seiner Armee den Abmarsch befohlen. Amos spuckte aus. »Seht Euch das an, er hat immer noch eine größere Armee in Reserve als die, mit der er uns angegriffen hat.«

Arutha sagte mit müder Stimme: »Ihr habt ihn fast fünfzehntausend Tote gekostet -«

Guy unterbrach ihn. »Und er kann trotzdem mit mehr als fünfunddreißigtausend Mann gegen Tyr-Sog marschieren ...« Teile der Truppen bewegten sich schon, und die Späher und die Reiter der Vorhut galoppierten zu ihren angewiesenen Posten entlang der Marschroute. Guy beobachtete das Ganze einen Moment, dann fuhr er auf: »Verdammt! Er marschiert nicht nach Süden! Er läßt seine Armee nach Osten ziehen!«

Arutha sah erst Amos, dann Guy an. »Aber das macht doch keinen Sinn. Er kann die Zwerge westlich von sich halten und sie zurückdrängen, bis er Yabon erreicht.«

Jimmy sagte: »Im Osten ...«

»... liegt Hohe Burg«, beendete Arutha den Satz.

Guy nickte. »Er läßt seine Armee hinunter zur Hauerschlucht marschieren, direkt zur Garnison von Hohe Burg.«

Arutha fragte: »Aber warum? Er kann Hohe Burg innerhalb von Tagen überrennen, doch dann steht er mitten im Hogewald, ungeschützt nach jeder Seite. Er hat davon keinen offensichtlichen Vorteil.«

Guy sagte: »Wenn er von dort aus weiter nach Süden vorstößt, kann er innerhalb eines Monats im Düsterwald sein.«

»Sethanon«, sagte Arutha.

Guy sagte: »Ich verstehe es nicht. Er kann Sethanon nehmen. Die Garnison dort ist kaum mehr als eine Ehrenkompanie. Doch wenn er dort ist, was dann? Er kann da überwintern, mit der Nahrung, die der Düsterwald bietet, und den Vorräten, die er in der Stadt vorfindet, doch im Frühling wird Lyam ihn von Osten und Eure Streitkräfte von Westen angreifen. Dann steht er zwischen Hammer und Amboß und hat fünfhundert Meilen vor sich, falls er sich in die Berge zurückziehen will. Das würde die völlige Vernichtung bedeuten.«

Amos spuckte aus. »Wollen wir diesen Bastard lieber nicht unterschätzen. Er hat irgend etwas vor.«

Galain sah sich um. »Wir ziehen jetzt am besten weiter. Wenn er mit Sicherheit nach Osten marschiert, werden wir es nie schaffen, uns wieder zum Inclindel zurückzuziehen. Diese Patrouille, die wir gesehen haben, wird ein Teil der Vorhut sein. Sie wird die ganze Zeit auf dieser Seite der Marschroute und immer hinter uns bleiben.«

Guy nickte. »Dann müssen wir die Hauerschlucht vor seiner Vorhut erreichen.« Arutha gab seinem Pferd die Sporen, und sie ritten nach Osten.

 

Für den Rest des Tages gelang es ihnen, sich vor allen Soldaten von Murmandamus versteckt zu halten. Gelegentlich sahen sie die flankierenden Reiter des Hauptheeres weiter unten auf der Ebene, und es gab Anzeichen von Truppenbewegungen hinter ihnen. Allerdings führte der Weg ins Tal, und kurz vor Sonnenuntergang stellte Arutha fest: »Wir werden direkt mit ihrer Vorhut zusammentreffen, wenn wir weiter auf die Ebene zureiten.«

Guy sagte: »Wenn wir nach Einbruch der Dunkelheit weiterreiten, könnten wir in die Wälder oben auf den Hügeln schlüpfen. Wenn wir den Fuß der Berge umrunden und die ganze Nacht durchreiten, können wir tiefer in den Wald eindringen. Ich bezweifle, daß sich Murmandamus traut, größere Truppen in den Weidenwald zu schicken. Außerdem kann er ihn einfach umgehen. Der Weidenwald ist sicherlich nicht der Ort, an dem ich mich am liebsten aufhalte, aber dort haben wir wenigstens Deckung. Wenn wir die ganze Nacht reiten, haben wir vielleicht genug Vorsprung, um sicher zu sein ... zumindest vor ihnen.«

Jimmy und Locklear warfen sich fragende Blicke zu, dann fragte Jimmy: »Amos, was meint er?«

Amos sah Guy an, der nickte. »Der Weidenwald ist ein übler Ort, Junge. Wir können - konnten den Wald auf einem Streifen von etwa drei Meilen entlang des Randes bewirtschaften. Und noch ein bißchen tiefer hinein konnte man jagen. Doch dahinter - wir wissen nicht, was sich darin verbirgt. Selbst Goblins und Dunkle Brüder umgehen ihn. Wer auch immer zu tief in den Wald eindringt, kehrt nicht zurück. Wir wissen einfach nicht, was darin haust. Der Weidenwald ist verdammt groß, also könnte sich so gut wie alles darin verbergen.«

Arutha sagte: »Dann kommen wir sozusagen vom Regen in die Traufe.«

»Vielleicht«, erwiderte Guy. »Im Gegensatz dazu wissen wir genau, was uns auf der Ebene erwartet.«

Jimmy meinte: »Vielleicht könnten wir mit unserer Tarnung einfach durchschlüpfen.«

Es war Galain, der darauf antwortete. »Da haben wir keine Chance, Jimmy. Jeder Moredhel kann einen Eledhel auf den ersten Blick erkennen. Das ist eine Sache, über die wir nicht sprechen, aber du kannst es mir glauben. Es ist eine Art angeborenes Erkennen.«

Amos trieb sein Tier an. »Dann gibt es keine andere Wahl. Auf in den Wald, Leute.«

Sie ritten so leise wie möglich durch die düstere und nichts Gutes verheißende Baumlandschaft. Aus der Ferne hörten sie Rufe von Murmandamus' Armee, die weiter im Norden auf der Ebene ihr Nachtlager aufgeschlagen hatte. Wenn sie die ganze Nacht durchritten, würden sie bei Sonnenaufgang einen ordentlichen Vorsprung haben, so jedenfalls beurteilte Arutha die Lage. Gegen Mittag würden sie den Wald verlassen und die Ebene erreichen, wo sie dann schneller vorankommen würden. Und dann, falls sie die Hauerschlucht durchqueren und zu Brian, dem Lord von Hohe Burg, stoßen konnten, würden sie Murmandamus auf seinem Weg durch den Hogewald zum Düsterwald einige Zeit aufhalten können.

Jimmy spornte sein Pferd an und zog mit Galain gleich. »Ich habe ein wirklich seltsames Gefühl.«

Leise erwiderte der Elb: »Geht mir auch so. Ich spüre allerdings auch etwas Vertrautes in diesem Wald. Aber ich könnte nicht sagen, was.« Dann fügte er mit elbischem Humor hinzu: »Allerdings bin ich auch noch ein junger Spund, ich bin gerade mal vierzig Jahre alt.«

Darauf meinte Jimmy trocken: »Sozusagen noch ein Kind.«

Guy, der neben Arutha ritt, sagte: »Wir könnten Hohe Burg gerade rechtzeitig erreichen.« Dann schwieg er einen Augenblick, bevor er fortfuhr: »Arutha, es wird einige Probleme für mich geben, wenn ich ins Königreich zurückkehre.«

Arutha verstand, was Guy sagen wollte, und nickte, obwohl der andere seine Geste in der Dunkelheit nicht sehen konnte. »Ich werde mit Lyam sprechen. Ich kann verhindern, daß Ihr in Hohe Burg in Haft genommen werdet, nehme ich an. Bis wir diese Sache hinter uns gebracht haben, steht Ihr unter meinem Schutz.«

Guy sagte: »Es geht nicht um mich. Seht, da ist dieser versprengte Rest eines kleinen Volkes, der hinunter nach Yabon flieht. Ich möchte bloß ... Ich möchte sicher sein, daß man sich anständig um diese Menschen kümmert.« Seine Stimme verriet, wie verzweifelt er war. »Ich habe gelobt, Armengar wieder aufzubauen. Aber wir wissen beide, dazu wird es nicht kommen.«

Arutha sagte: »Wir werden sehen, wie wir Eure Leute am besten im Königreich aufnehmen, Guy.« Er sah zu der Gestalt hinüber, die im Dunkeln neben ihm ritt. »Aber was ist mit Euch?«

»Ich mache mir keine Sorgen um mich. Doch ... wenn Ihr Euch vielleicht auch zugunsten von Armand bei Lyam verwenden könntet ... Er ist ein guter General und ein fähiger Anführer. Hätte ich die Krone errungen, wäre er der nächste Herzog von Bas-Tyra geworden. Da ich keinen Sohn habe, hätte ich kaum eine bessere Wahl treffen können. Ihr werdet solche Leute brauchen, Arutha, wenn Ihr den Stürmen trotzen wollt, die auf Euch zukommen. Sein einziger Fehler ist sein übertriebener Sinn für Treue und Ehre.«

Arutha versprach, darüber nachzudenken, und sie verfielen in Schweigen. Bis nach Mitternacht ritten sie so weiter, dann beschlossen Guy und Arutha, eine Rast einzulegen. Während sie den Pferden eine Pause gönnten, ging Guy hinüber zu Galain und sagte: »Wir sind jetzt tiefer in diesen Wald eingedrungen, als sich jemals ein Armengare hineingewagt hat«

Galain sagte: »Ich werde weiterhin wachsam sein.« Er betrachtete Guys Gesicht. »Ich habe von Euch gehört, Guy du Bas-Tyra. Nach den letzten Dingen, die über Euch erzählt wurden, dürfte man Euch eigentlich nicht trauen«, meinte er, womit er stark untertrieb. »Doch die Dinge scheinen sich geändert zu haben.« Er deutete mit dem Kopf auf Arutha.

Guy lächelte grimmig. »Im Moment jedenfalls. Das Schicksal und die Umstände schmieden manchmal ungewöhnliche Bündnisse.«

Der Elb grinste. »Das ist wahr. Ihr seid aufgeschlossen wie ein Elb. Eines Tages würde ich gern einmal die ganze Geschichte hören.«

Guy nickte. Amos kam heran und meinte: »Ich glaube, ich habe etwas gehört.« Guy blickte in die Richtung, in die der alte Seemann zeigte. Dann bemerkten beide, daß Galain verschwunden war.

Arutha stieß zu ihnen. »Ich habe das Geräusch auch gehört, und Galain ebenfalls. Er wird gleich zurückkehren.«

Guy kauerte sich hin, blieb jedoch wachsam. »Hoffentlich kann er das.«

Jimmy und Locklear brachten die Pferde zur Ruhe. Jimmy betrachtete seinen Freund. In der Dunkelheit konnte er die Miene des Jungen kaum erkennen, doch er wußte, Locklear war immer noch nicht über den Tod von Bronwynn hinweg. Dann fühlte Jimmy plötzlich ein seltsames Schuldgefühl in sich aufsteigen. Er hatte, seitdem sie sich von der Stadtmauer zurückgezogen hatten, kein einziges Mal mehr an Krista gedacht. Jimmy versuchte, dieses verwirrende Gefühl mit einem Schulterzucken abzutun. Waren sie nicht einfach Liebhaber aus Leidenschaft gewesen, ohne gleich eine tiefere Beziehung einzugehen? Hatten sie sich Irgend etwas versprochen? Ja und gleichzeitig nein, doch er ärgerte sich über sich selbst, weil er sich so wenig Gedanken um sie machte. Natürlich wollte er nicht, daß Krista etwas zustieß, und es ergab auch nicht viel Sinn, wenn er sich ständig um sie sorgte. Sie war genausogut in der Lage, auf sich selbst aufzupassen, wie jede andere Frau, die Jimmy in Armengar kennengelernt hatte: Schließlich war sie von Kindesbeinen an zur Soldatin ausgebildet Worden. Nein, Jimmy stieß auf, daß er sich schlichtweg überhaupt keine Sorgen um sie machte. Irgend etwas fehlte, das spürte er vage. Und das verwirrte ihn. Er hatte sich genug um andere Leute gesorgt, zum Beispiel als Anita so schwer verwundet gewesen war oder als Arutha seinen Tod vorgetäuscht hatte. Es konnte ungemein lästig werden, wenn man sich zu sehr mit anderen Menschen einließ. Schließlich merkte er, wie sich seine Verwirrung in Wut verwandelte.

Er ging zu Locklear, packte seinen Freund fest an der Schulter und schüttelte ihn rauh. »Hör endlich damit auf«, zischte er.

Locklear riß überrascht die Augen auf. »Womit soll ich aufhören?«

»Mit diesem verfluchten, verdammten ... Schweigen. Bronwynn ist tot, und es war nicht deine Schuld.«

Locklears Miene veränderte sich nicht, doch langsam wurden Seine Augen feucht, und dann rannen Tränen über seine Wangen. Er löste sich aus Jimmys Griff, zuckte mit den Schultern und Sagte leise: »Die Pferde.« Er ging davon, weiter weinend.

Jimmy seufzte. Er wußte nicht, was in ihn gefahren war und weshalb er sich so benommen hatte, doch mit einem Mal kam er sich dumm und gedankenlos vor. Er fragte sich, wie es Krista wohl ergehen mochte, falls sie noch lebte. Er wandte sich den Pferden zu und kämpfte mit diesen heftigen Gefühlen.

Galain kam fast unhörbar angelaufen. »Ein seltsames Licht, tief im Wald. Ich habe mich nahe herangewagt und Bewegungen gehört. Sie sind fast nicht zu bemerken, doch den Anzeichen nach kommen sie in diese Richtung.«

Guy machte sich zu seinem Pferd auf, und die anderen taten das gleiche. Galain stieg auf, und als alle bereit waren, zeigte er die Richtung an. Er flüsterte: »Wir müssen uns am Rand des Waldes halten, so weit von dem Licht entfernt wie nur möglich. Allerdings dürfen wir uns auch nicht von Murmandamus' Spähern erwischen lassen.«

Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt los. Er war kaum ein paar Schritte vorangekommen, als aus dem Baum über ihm eine Gestalt herunterfiel und ihn aus dem Sattel riß.

Weitere Angreifer sprangen aus den Bäumen, und alle Reiter wurden von ihren Pferden gezerrt. Arutha fiel auf den Boden, wälzte sich zur Seite und kam mit dem Schwert in der Hand wieder auf die Beine. Er betrachtete seinen Gegner und sah in ein elbenähnliches, vor Haß verzerrtes Gesicht. Dann sah er Bogenschützen hinter seinem Gegner, die auf ihn zielten, und mit einem eigenartigen Gefühl der Endlichkeit dachte er: So geht jetzt alles zu Ende? War die Prophezeiung doch falsch?

Derjenige, der auf Galain hockte, zerrte den Elben am Jagdrock auf die Beine, während er in der anderen Hand ein Messer hielt, bereit, seinem Feind die Kehle durchzutrennen. Er zögerte und rief: »Eledhel!« Darauf folgte ein Satz in einer Sprache, die Arutha nicht verstand.

Plötzlich versuchte keiner der Angreifer mehr, einen von Aruthas Gesellschaft zu töten. Die Gefährten wurden festgehalten, während Galains Gegner dem Elben auf die Beine half. Sie sprachen schnell in der fremden Sprache, dann zeigte Galain auf Arutha und schließlich auf die anderen. Die übrigen Gegner, die in graue Kapuzenmäntel gehüllt waren, nickten und zeigten in Richtung Osten.

Galain sagte: »Wir müssen mit ihnen gehen.«

Leise fragte Arutha: »Halten sie uns für Abtrünnige und Euch für einen der ihren?«

Das sonst so undurchschaubare Gesicht des Elben offenbarte plötzlich Verwirrung. »Ich weiß zwar nicht, was für einem Wunder wir hier gegenüberstehen, doch dies sind keine Moredhel. Es sind Elben.« Er sah sich auf der Lichtung um. »Und ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen von ihnen gesehen.«

 

Sie wurden vor einen alten Elben gebracht, der auf einem hölzernen Thron auf einem kleinen Podest saß. Die Lichtung war vielleicht fünfundzwanzig Meter breit, und an allen Seiten hockten oder standen Elben. Sie befanden sich mitten in ihrem Dorf, das aus Hütten und kleinen Holzhäusern bestand, denen jedoch die Schönheit und die Eleganz der Orte in Elvandar fehlte. Arutha sah sich um. Für Elben trugen sie eine recht ungewöhnliche Kleidung. Die meisten hatten graue Umhänge, so wie man sie von den Moredhel kannte, und die Krieger trugen eine Mischung aus Lederharnischen und Fell. An ihren Hälsen hing ein eigenartiges Geschmeide aus Kupfer und Bronze, in das ungeschliffene Steine eingearbeitet waren. Die Waffen sahen gefährlich aus, ihnen fehlte jedoch jene Kunstfertigkeit, die Arutha von den Waffen der Elben gewohnt war. Der Prinz hörte zu, während der Anführer der Gruppe, die sie gefangengenommen hatte, zu dem Elben auf dem Thron sprach.

»Aron Earanorn«, flüsterte Galain Arutha zu. »Das heißt: König Rotbaum. Sie nennen ihn ihren König.«

Der König gab ein Zeichen, die Gefangenen wurden nach vorn gebracht, und er sprach mit Galain. Arutha fragte: »Was hat er gesagt?«

Der König sagte: »Ich habe gesagt, wenn Euer Freund nicht erkannt worden wäre, wäret Ihr jetzt alle tot.«

Arutha fragte: »Ihr sprecht die Sprache des Königreichs?«

Der alte Elb nickte. »Und ebenfalls Armengarisch. Wir sprechen die Sprachen der Menschen, obwohl wir mit ihnen nichts zu tun haben. Wir haben sie im Laufe der Jahre von denen gelernt, die wir gefangengenommen haben.«

Guy schien wütend zu sein. »Ihr wart es also, der meine Leute getötet hat!«

»Und wer seid Ihr?« fragte der König.

»Ich bin Guy du Bas-Tyra, der Protektor von Armengar.«

Der König nickte. »Einauge, auch von Euch haben wir gehört. Wir töten jeden, der in unseren Wald eindringt, ob Mensch, Goblin oder Troll, selbst die vom Dunklen Geschlecht. Außerhalb des Tauredder, des Weidenwaldes, haben wir nur Feinde. Doch dies« - er deutete auf Galain - »ist für uns etwas Neues.« Er betrachtete den Elben. »Ich würde gern deinen Namen erfahren.«

»Ich heiße Galain und bin der Sohn von einem, dessen Bruder einst regiert hat«, sagte er, und wie bei den Elben üblich, vermied er die Namen der Toten. »Mein Vater stammt von dem ab, der die Moredhel aus unserer Heimat vertrieben hat. Ich bin ein Cousin von Prinz Calin und ein Neffe von Königin Aglaranna.«

Der alte Elb kniff die Augen zusammen, während er Galain eingehend betrachtete. »Du sprichst von Prinzen, obwohl mein Sohn schon vor siebzig Wintern von den Trollen erschlagen wurde. Du sprichst von Königinnen, obwohl die Mutter meines Sohnes in der Schlacht von Neldarlod fiel, als die Dunklen Brüder den letzten Versuch unternahmen, uns zu unterwerfen. Du sprichst von Dingen, die ich nicht verstehe.«

Galain sagte: »So wie Ihr, König Earanorn. Ich weiß nicht, wo dieses Neldarlod liegt, von dem Ihr gesprochen habt, und genauso habe ich nie gehört, daß Angehörige unseres Volkes nördlich der großen Berge leben. Ich rede von jenen unseres Geschlechts, die in Elvandar leben.«

Etliche Elben sagten: »Barmalindar!«

Arutha fragte: »Was bedeutet dieses Wort?«

Galain sagte: »Goldene Heimat - goldener Ort - goldenes Land; das ist ein Land der Sagen. Sie glauben, Elvandar sei ein Ort der Legende.«

Der König sagte: »Elvandar! Barmalindar! Du sprichst von Legenden. Unsere alte Heimat wurde in den Tagen der Wütenden Götter zerstört.«

Galain schwieg eine Weile, als würde er angestrengt über etwas nachdenken. Schließlich wandte er sich an Arutha und Guy. »Ich werde ihn bitten, Euch an einen anderen Ort zu bringen. Ich muß mit ihm über Dinge sprechen, von denen ich nicht sicher bin, ob Ihr sie hören dürft. Ich muß mit ihm über jene reden, die sich zur Gesegneten Insel aufgemacht haben, und über die Schande unseres Volkes. Ich hoffe, Ihr versteht mich.« An den König gewandt, sagte er: »Ich würde mit Euch über diese Dinge reden, doch sie dürfen nur an die Ohren der Eledhel dringen. Werdet Ihr meine Freunde an einem sicheren Ort unterbringen, während ich mit Euch spreche?«

Der König nickte und winkte zwei Wachen heran, die die fünf Menschen zu einer anderen Lichtung führten. Dort gab es außer dem Boden keine Sitzgelegenheiten, also hockten sie sich auf die feuchte Erde. Sie konnten zwar schwach Galains Stimme hören, doch sie verstanden nicht, was er sagte. Stundenlang hielten die Elben Rat, und Arutha fiel in einen leichten Schlummer.

Plötzlich war Galain da und gab ihnen ein Zeichen aufzustehen. »Ich habe über Dinge gesprochen, von denen ich glaubte, ich hätte sie vergessen, die alte Kunde, die mich die Zauberer gelehrt haben. Ich denke, sie glauben mir jetzt, obwohl sie ausgesprochen verwirrt sind.«

Arutha blickte zu den beiden Wachen, die in einiger Entfernung warteten, weil sie Galain nicht durch Aufdringlichkeit verletzen wollten. »Wer sind diese Elben?«

Galain antwortete: »Ich weiß wohl, daß Tathar dir und Martin von der Schande unseres Volkes, dem vernichtenden Krieg der Moredhel gegen die Glamredhel, erzählt hat, als Ihr Elvandar auf dem Weg zum Moraelin durchquert habt. Und ich glaube, dies hier sind die Abkömmlinge der überlebenden Glamredhel. Sie sind anständige Elben und haben nichts mit den Moredhel zu tun, doch sie kennen keine Zauberer und Kundige des Wissens. Sie sind fast zu Primitiven geworden, kaum mehr als Wilde. Viele Künste unseres Volkes sind bei ihnen verlorengegangen. Als die Moredhel mit Murmandamus die letzte Schlacht gewonnen haben, sind die Überlebenden hierhergekommen und haben hier eine Zuflucht gefunden. Der König sagte, sie hätten eine lange Zeit in Neldarlod gelebt, was soviel wie Ort der Buchen heißt. Sie sind also erst in jüngster Zeit in den Weidenwald gekommen.«

»Jedenfalls sind sie schon lange genug hier, um den Armengaren jede Jagd oder das Holzschlagen tiefer im Wald unmöglich zu machen«, sagte Guy. »Mindestens seit drei Generationen.«

»Ich spreche von Angelegenheiten der Elben und vom Zeitgefühl der Elben«, entgegnete Galain. »Sie leben hier seit über zweihundert Jahren.« Er betrachtete die beiden Wachen. »Und ich glaube nicht, daß sie das gesamte Erbe der Glamredhel verloren haben. Sie sind viel kriegerischer und angriffslustiger als wir in Elvandar, fast so wie die Moredhel. Dieser König scheint unsicher darüber zu sein, was nun getan werden muß. Er hält jetzt Rat mit seinen Ältesten, und ich erwarte ihre Entscheidung in ein oder zwei Tagen.«

Arutha wurde jetzt hellhörig. »In ein oder zwei Tagen wird Murmandamus zwischen uns und der Hauerschlucht stehen. Wir müssen noch heute aufbrechen.«

Galain sagte: »Ich werde wieder zum Rat gehen. Vielleicht kann ich ihnen einige Dinge erklären, und vielleicht verstehen sie dann, was in der Welt draußen vor sich geht.« Er verließ sie, und sie setzten sich wieder, niedergeschlagen, weil sie nichts tun konnten als warten.

 

Fast der halbe Tag war vergangen, als Galain zurückkam. »Der König läßt uns gehen. Er wird uns sogar eine Eskorte mitgeben, die uns über einen Weg zur Hauerschlucht bringt, bevor Murmandamus' Armee dort ankommt. Während sie um den Wald herumziehen müssen, können wir geradeaus hindurch.«

Arutha sagte: »Ich war besorgt, daß wir vielleicht Schwierigkeiten bekommen würden.«

»So war es auch. Ihr solltet eigentlich getötet werden, und sie wußten noch nicht genau, was sie mit mir anfangen sollten.«

»Und was hat ihren Sinneswandel herbeigeführt?« fragte Amos.

»Murmandamus. Als ich den Namen fallenließ, mochte man meinen, ich hätte mit einem Stock in ein Wespennest gestochen. Sie haben viel von dem alten Wissen verloren, doch an diesen Namen können sie sich immer noch sehr gut erinnern. Es besteht überhaupt kein Zweifel, wir haben es hier mit den Nachfahren der Glamredhel zu tun. Ich schätze, der Zahl im Rat nach gibt es hier in der unmittelbaren Umgebung etwa drei- bis vierhundert Elben. In den entfernteren Siedlungen leben noch mehr, in jedem Fall genug, daß es sich kaum lohnt, sie zu belästigen.«

»Werden sie uns im Kampf unterstützen?« fragte Guy.

Galain schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Earanorn ist ziemlich durchtrieben. Würde er sein Volk nach Elvandar führen, wäre er dort willkommen, doch man würde ihm nicht unbedingt vertrauen. Es würden Jahre vergehen, bis sich beide Seiten miteinander angefreundet hätten. Außerdem ist ihm klar, daß er im Rat der wahren Elbenkönigin nur eine kleine Rolle spielen würde, da er noch nicht einmal ein Zauberer ist. Natürlich würde er mit einbezogen, einmal als Geste an sein Volk, und dann, weil er einer der ältesten Elben ist, die hier im Weidenwald leben. Hier jedoch ist er ein König, ein armer König zwar, aber immerhin ein König. Nein, dieses Problem wird nicht leicht zu lösen sein. Allerdings ist dies eine jener Angelegenheiten, die wir Elben gern über Jahre hinweg abwägen. Ich habe Earanorn ausführlich den Weg nach Elvandar beschrieben, und falls sie zu unserem Mutterwald aufbrechen wollen, haben sie dazu die Möglichkeit. Sie werden gehen oder nicht, wie es ihnen gefällt, wir müssen uns jedoch nach Hohe Burg aufmachen.«

Arutha erhob sich und sagte: »Gut; zumindest haben wir ein Problem weniger.«

Jimmy folgte Arutha zu den Pferden und sagte zu Locklear: »Als wären diejenigen, die wir zurückgelassen haben, irgendwelche unbedeutenden Personen.«

Amos lachte und klopfte dem Jungen auf die Schulter.

 

Die Pferde waren bis an die Grenze ihrer Kräfte erschöpft, denn Arutha und seine Gefährten waren fast eine Woche lang scharf geritten. Die müden Tiere waren lahm und langsam, und Arutha wußte, es war ihnen nur knapp gelungen, der Armee von Murmandamus zu entkommen. Am gestrigen Tag hatten sie hinter sich Rauch entdeckt, offensichtlich hatten dort Murmandamus' vorderste Späher ihr Lager aufgeschlagen. Dieser Mangel an Vorsicht verriet, wie wenig Respekt sie vor der Garnison hatten, die zwischen ihrer Armee und dem Königreich lag.

Die Hauerschlucht schnitt sich am südlichen Ende eines weiten Tals durch die Zähne der Welt. Auf der ganzen Länge war der Weg mit Felsbrocken übersät und fast durchgehend mit dichtem Buschwerk bewachsen. Dann wurde das Tal breiter und bot nicht mehr die geringste Deckung. Vor ihnen gab es nur noch nackten Boden. Jimmy und Locklear sahen sich um, und Guy bemerkte: »Wir haben die Grenze des Gebiets erreicht, bis wohin die Patrouillen von Hohe Burg Wache halten. Vermutlich wird das Gelände hier jedes Jahr einmal abgebrannt, damit es keine Deckung gibt und sich niemand ungesehen nähern kann.«

Während der sechste Tag, seit sie den Weidenwald verlassen hatten, seinem Ende zuging, wurde das Tal wieder enger, und sie kamen zu der eigentlichen Schlucht. Arutha zügelte sein Pferd und sah sich um. »Erinnert ihr euch noch? Roald erzählte, fünfzig Söldner hätten an dieser Stelle zweihundert Goblins aufgehalten.«

Jimmy nickte und dachte an den Söldner, der stets zu jedem Spaß bereit gewesen war. Schweigend ritten sie in die Schlucht.

 

»Haltet an, und weist Euch aus!« rief jemand von den Felsen herab.

Arutha und die anderen zügelten die Pferde und warteten, bis sich der Sprecher zeigte. Von einem Felsen am oberen Rand der Schlucht kam ein Mann herunter, der einen weißen Heroldsrock trug, auf dem ein Wappen mit einem roten Turm angebracht war. Selbst im abendlichen Zwielicht konnte man es noch erkennen. Eine Kompanie Reiter erschien am anderen Ende des schmalen Canons, während sich oben auf allen Seiten Bogenschützen postierten.

Arutha hob langsam die Hände. »Ich bin Arutha, der Prinz von Krondor.«

Einige der Männer lachten, und der befehlshabende Offizier sagte: »Und ich bin Euer Bruder, der König. Ganz schön frech, Abtrünniger, doch leider liegt der Prinz von Krondor tot in seiner Familiengruft in Rillanon. Davon hättet Ihr vielleicht gehört, wäret Ihr nicht den Goblins mit Euren Waffen zu Hilfe gelaufen.«

Arutha schrie zurück: »Bringt mich zu Brian von Hohe Burg.«

Der Anführer der Reiter ritt zum Prinzen und sagte: »Die Hände auf den Rücken, seid so freundlich.«

Arutha zog den rechten Handschuh aus und hielt ihm den Siegelring entgegen. Der Mann sah ihn sich genau an, dann rief er: »Hauptmann, habt Ihr schon einmal das Fürstliche Wappen von Krondor gesehen?«

»Ein Adler, der über eine Bergspitze fliegt.«

»Nun, ob er der Prinz ist oder nicht, jedenfalls trägt er dessen Ring.« Der Mann sah sich die Gefährten an. »Und er hat auch einen Elb bei sich.«

»Einen Elb? Ihr meint, einen Dunklen Bruder?«

Der Soldat war verwirrt. »Ihr solltet vielleicht mal herkommen, Sir.« Zu Arutha gewandt, sagte er: »Wir werden das sofort geklärt haben ...«, und fügte leise, für alle Fälle, hinzu: »Euer Hoheit.«

Der Hauptmann brauchte einige Zeit, bis er den Grund der Schlucht erreicht hatte, dann stand er schließlich neben Arutha. Er betrachtete das Gesicht des Prinzen eingehend. »Die Ähnlichkeit ist schon verblüffend, darauf möchte ich schwören, doch der Prinz hat nie einen Bart getragen.«

Dann sagte Guy: »So halsstarrig wie Ihr Euch benehmt, ist es kein Wunder, daß Armand Euch nach Hohe Burg geschickt hat, Walter von Gyldenholt.«

Der Mann betrachtete Guy einen Moment lang, dann rief er: »Zur Hölle! Der Herzog von Bas-Tyra!«

»Und dies hier ist der Prinz von Krondor.«

Der Mann namens Walter blickte zwischen den beiden Gesichtern hin und her. Dann sagte er: »Aber Ihr seid doch tot, oder zumindest wurde Euer Tod öffentlich verkündet.« Er wandte sich an Guy: »Und Ihr habt die Stirn, ins Königreich zurückzukehren, Euer Gnaden?«

Arutha sagte: »Bringt uns zu Brian, und wir werden die Sache klären. Seine Gnaden steht unter meinem Schutz, genauso wie die anderen. Also, können wir jetzt mit diesen Spielereien aufhören und weiterreiten? Kaum einen Tag hinter uns nähert sich eine Armee von Dunklen Brüdern und Goblins, und wir glauben, Brian würde diese Nachricht auch gern hören.«

Walter von Gyldenholt gab dem Anführer der Reiter ein Zeichen, und sie wendeten die Pferde. »Bringt sie zu Lord Hohe Burg. Und wenn die Dinge sich geklärt haben, kommt Ihr zurück und erzählt mir, was zum Teufel hier eigentlich vor sich geht.«

 

Arutha legte das Rasiermesser zur Seite. Er fuhr mit der Hand über sein glattes Gesicht und meinte: »Also haben wir die Elben hinter uns gelassen und sind direkt hierhergeritten.«

Brian, der Lord von Hohe Burg, Kommandant der Abteilung der Hauerschlucht, sagte: »Eine unglaubliche Geschichte, Hoheit. Sähe ich Euch nicht mit eigenen Augen hier vor mir stehen und du Bas- Tyra gleich neben Euch, dann würde ich kein Wort glauben. Das ganze Königreich denkt, Ihr wäret tot. Wir haben Euch zu Ehren auf Gesuch des König einen Feiertag abgehalten.« Er saß da und beobachtete, wie sich die erschöpften Reisenden in dem Raum der Kaserne, den er Arutha und seinen Gefährten überlassen hatte, frisch machten und wie sie etwas aßen. Der alte Kommandant hatte Haltung angenommen, als wäre er nicht der befehlshabende Offizier an der Front, sondern stände als Soldat auf dem Kasernenhof.

Amos, der sich an einer Karaffe Wein gütlich tat, lachte: »Wenn Ihr Euch noch einen von diesem guten Tropfen genehmigen wollt, dann solltet Ihr das besser tun, bevor Ihr tot seid, sonst könnt Ihr es wahrscheinlich nicht mehr genießen. Schande über Euch, daß Ihr ihn nicht gekostet habt, Arutha.«

Guy fragte: »Habt Ihr viele meiner Männer hier?«

Von Hohe Burg antwortete: »Die meisten Eurer ehemaligen Offiziere wurden zum Eisenpaß oder zu den Wächtern des Nordens geschickt, doch zwei Eurer besten sind hier bei mir: Baldwin de la Troville und Anthony du Masigny. Und einige wenige sind in Bas- Tyra geblieben. Guiles Martine-Reems regiert Eure Stadt nun unter dem Namen Baron du Corvis.«

Guy erwiderte: »Ohne Zweifel würde er gern Herzog werden.«

Arutha sagte: »Brian, ich würde die Truppe von hier am liebsten nach Sethanon zurückziehen. Das scheint das offensichtliche Ziel von Murmandamus zu sein, und die Stadt könnte Eure Soldaten sicher gut gebrauchen. Die Stellung hier ist nicht zu halten.«

Von Hohe Burg sagte eine Weile gar nichts, dann meinte er: »Nein, Hoheit.«

Amos bemerkte: »Sagt er doch glatt nein zum Prinzen. Ha!«

Der Baron warf Amos einen Seitenblick zu und wandte sich wieder an Arutha. »Ich kenne meine Rechte und meine Pflichten. Als Vasall Eures Bruders bin ich ihm unterstellt, und sonst niemandem. Mir wurde die Verantwortung für die Sicherheit dieses Passes übertragen. Und die kann ich nicht einfach vernachlässigen.«

»Bei den Göttern, Mensch!« rief Guy. »Habt Ihr denn nicht begriffen, welche Nachrichten wir mitgebracht haben? Eine Armee von mehr als dreißigtausend Mann ist im Anmarsch, und Ihr habt hier vielleicht, wartet ... zweitausend Soldaten. Und die sind irgendwo in den Bergen verteilt, vom halben Weg zu den Wächtern des Nordens bis fast nach Tyr-Sog. Er wird Euch an einem halben Tag überrennen.«

»Das behauptet Ihr, Guy. Ich weiß allerdings nicht aus erster Hand, ob das, was Ihr sagt, wahr ist.«

Arutha war wie gelähmt, während Amos sagte: »Und jetzt nennt Ihr den Prinzen auch noch einen Lügner!«

Brian ignorierte Amos. »Sicherlich habt Ihr im Norden große Ansammlungen von Dunklen Brüder gesehen, doch dreißigtausend kommt mir doch höchst unwahrscheinlich vor. Wir haben seit Jahren mit ihnen zu tun, und unseres Wissens haben sich nie mehr als zweitausend von ihnen unter einem Kommandanten zusammengefunden. Und mit dieser Stärke kommen wir ohne Probleme zurecht.«

Guy konnte seine Wut gerade noch kontrollieren. »Habt Ihr geträumt, während Arutha berichtet hat, Brian? Hat er nicht gesagt, daß wir eine Stadt aufgeben mußten, die von einer sechzig Fuß hohen Mauer umgeben ist, die man nur von einer Seite angreifen kann und die von siebentausend kampferprobten Soldaten unter meinem Kommando verteidigt wurde?«

»Und wer hat lange Zeit als der beste Stratege im Königreich gegolten?« fragte Arutha.

Von Hohe Burg erwiderte: »Ich kenne Euren Ruf wohl, Guy, und gegen Kesh habt Ihr Euch tapfer geschlagen. Doch wir Grenzbarone stehen solchen ungewöhnlichen Situationen Tag für Tag gegenüber. Mit diesen Dunklen Brüdern werden wir schon zurechtkommen, da bin ich mir ganz sicher.« Der Baron stützte sich auf den Tisch, erhob sich und ging zur Tür. »Nun, wenn Ihr mich entschuldigen würdet, ich habe noch einige Pflichten, denen ich nachkommen muß. Wie Ihr wißt, bin ich hier so lange der oberste Befehlshaber, bis der König eine andere Entscheidung trifft. Und ich würde sagen, Ihr braucht erst einmal Ruhe. Wenn es Euch gefällt, erscheint doch bitte in zwei Stunden zum Abendessen mit mir und meinen Offizieren. Ich werde Euch eine Wache schicken, die Euch weckt.«

Arutha setzte sich an den Tisch. Nachdem von Hohe Burg gegangen war, meinte Amos: »Der Mann ist ein Trottel.«

Guy beugte sich vor und stützte das Kinn in die Hand, »Nein, Brian erfüllt nur seine Pflicht, und das so gut er kann. Unglücklicherweise ist er kein General. Er hat seine Privilegien von Rodric erhalten, und das war fast ein Witz. Er stammt von einem Hof im Süden, und dort hat man praktisch keine Erfahrung mit dem Kriegsgeschäft. Und bisher hat er hier oben mit den Goblins nur wenig Ärger gehabt.«

»Als ich noch ein Junge war, ist er einmal nach Crydee gekommen«, erzählte Arutha. »Damals habe ich ihn für einen verwegenen Burschen gehalten. Die Grenzbarone.« Das letzte sagte er mit einem bissigem Unterton in der Stimme.

»Er wird tun, was er will«, meinte Guy. »Und er hat fast nur solche Unruhestifter wie Walter von Gyldenholt in seinen Diensten. Armand hat ihn vor fünf Jahren hierhergeschickt, weil er sich an den Geldern der Kompanie bereichert hat. Vorher war er Oberleutnant.

Allerdings«, fuhr Guy fort, »sind aus politischen Gründen auch einige sehr gute Männer hier. Baldwin de la Troville und Anthony du Masigny sind beide Offiziere ersten Ranges. Sie hatten nur das Pech, mir gegenüber loyal zu sein. Ich bin mir sicher, es war Caldric, der Lyam vorgeschlagen hat, sie an die Grenze zu schicken.«

Amos meinte: »Trotzdem, was bringt uns das? Sollen wir hier vielleicht eine Meuterei anzetteln?«

Guy erwiderte: »Nein, doch zumindest werden die Trottel zusammen mit der Garnison unter einigen fähigen Offizieren ausgelöscht werden, wenn das Schlachten beginnt.«

Arutha lehnte sich in seinem Stuhl zurück und spürte, wie sich die Erschöpfung in seinem Körper breitmachte. Er wußte, sie mußten etwas tun, doch was? Seine Gedanken drehten sich verwirrt im Kreis, und dafür waren gleichermaßen der Schlafmangel und die Anspannung verantwortlich. Keiner im Zimmer sagte etwas. Nach einem Augenblick stand Locklear auf, ging zu einem der Betten und legte sich hinein. Ohne ein weiteres Wort an die anderen war er sofort eingeschlafen.

Amos sagte: »Das ist die beste Idee, die mir in den letzten Wochen untergekommen ist.«

Er ging ebenfalls zu einem Bett, und mit einem zutiefst befriedigten Grunzen wickelte er sich in die Decke ein. »Ich seh' Euch beim Essen.« Die anderen folgten seinem Beispiel.

Bald schliefen alle, abgesehen von Arutha, der sich hin und her warf und dessen Gedanken zu dem Heer der Goblins und Moredhel wanderten, das über seine Heimat herfiel, Menschen tötete und Städte niederbrannte. Seine Augen wollten nicht geschlossen bleiben, und schließlich setzte er sich auf. Seine Haut war naß von kaltem Schweiß. Er sah sich um; die anderen schlummerten. Er legte sich wieder hin und wartete auf den Schlaf, doch als sie zum Essen gerufen wurden, war er immer noch wach.